Kein Recht zur Selbstjustiz
Juristen äußern erhebliche Zweifel
am Nato-Bündnisfall
Die internationale
Juristenorganisation gegen den Atomkrieg (Ialana) bestreitet den
Bündnisfall der Nato. Dieter Deiseroth, Gründungsmitglied der deutschen
Sektion der Ialana und Bundesverwaltungsrichter, begründet im Gespräch mit
der Karlsruher FR-Korrespondentin Ursula Knapp den Standpunkt der
Organisation.
Frankfurter Rundschau: Herr
Deiseroth, die Außenminister der Nato-Staaten sind sich einig, dass mit
dem schwersten Terroranschlag der Nachkriegsgeschichte für die Nato der
Bündnisfall eingetreten ist. Sie bestreiten das, warum?
Dieter Deiseroth: Nach meinen
Informationen hat der Nato-Rat bislang den so genannten Bündnisfall nach
Artikel 5 Nato-Vertrag (noch) nicht beschlossen. Die öffentliche
Berichterstattung und auch die meisten Erklärungen der Verantwortlichen
sind insofern im entscheidenden Punkt widersprüchlich oder zumindest
ungenau. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am Mittwochabend vor der
Presse sinngemäß erklärt, der Nato-Rat habe mit deutscher Zustimmung in
Solidarität mit den USA das Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 5
des Nato-Vertrags, also des so genannten Bündnisfalls, beschlossen.
Demgegenüber heißt es in der Verlautbarung von Nato-Generalsekretär
Robertson, die Nato betrachte die Terroranschläge in den USA als Angriff
auf das gesamte Bündnis, "falls" - und dies ist ein bedeutsamer
Unterschied - "der Angriff vom Ausland aus gesteuert worden sein sollte".
Denn dann liege der Fall des Artikels 5 Nato-Vertrag vor. Offenbar gab es
in diesem Punkt auch Meinungsverschiedenheiten im Nato-Rat. So ist bekannt
geworden, dass insbesondere die Vertreter der Niederlande, Belgiens und
Portugals sich gegen eine Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 zum
gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesprochen haben.
Unter welchen Voraussetzungen wäre
denn im aktuellen Konflikt der Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag
gegeben?
Die Feststellung des so genannten
Bündnisfalls nach Artikel 5 Nato-Vertrag hat völkerrechtlich betrachtet
mehrere Voraussetzungen. Die wichtigste ist, dass ein "bewaffneter
Angriff" auf eine Vertragspartei erfolgt sein muss. Die Feststellung, ob
dies der Fall ist, steht nicht zur freien Disposition der Vertragsstaaten.
Artikel 5 wie auch der gesamte Nato-Vertrag stehen vielmehr unter dem
ausdrücklichen Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der UN-Charta und dem
geltenden übrigen Völkerrecht. Artikel 7 Nato-Vertrag stellt dies
ausdrücklich klar. Zwar ist anerkannt, dass nicht nur direkte militärische
Handlungen durch Streitkräfte eines anderen Staats einen "bewaffneten
Angriff" darstellen können. Auch Aktionen militärisch organisierter
nichtstaatlicher Verbände können dann als "bewaffneter Angriff" im Sinne
des Artikel 51 UN-Charta gewertet werden, wenn diese von einem fremden
Staat entsendet werden oder in dessen Auftrag oder unter dessen
wesentlicher Beteiligung tätig werden. Das ergibt sich insbesondere auch
aus der ständigen Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs. Dieser
hat freilich ausdrücklich entschieden, dass eine bloße Unterstützung
solcher nichtstaatlicher Angreifer durch Waffenlieferungen oder durch
logistische Hilfen eines fremden Staats für die Annahme eines bewaffneten
Angriffs im Sinne des Artikel 51 UN-Charta nicht ausreichen.
Was heißt dies für den konkreten
Fall des Terrorangriffs auf Ziele in New York und Washington?
Vor der förmlichen Feststellung, ob
die Voraussetzungen des Artikels 5 Nato-Vertrag vorliegen, muss sehr genau
die Fakten- und Beweislage geprüft werden. Keinesfalls darf auf der
Grundlage unüberprüfbarer Behauptungen oder gar von Mutmaßungen angenommen
werden, die Terroranschläge seien von militärisch organisierten
nichtstaatlichen Verbänden verübt worden, die von einem ausländischen
Staat entsandt oder in dessen Auftrag oder mit dessen wesentlicher
Beteiligung tätig geworden seien. Bisher fehlt es für die Annahme einer
solchen Verantwortlichkeit eines fremden Staats an jedem Anhaltspunkt.
Aber auch dann, wenn im konkreten Einzelfall ein "bewaffneter Angriff" im
Sinne des Artikels 51 UN-Charta erfolgt wäre, dürfte ein militärischer
Gegenschlag völkerrechtlich betrachtet unzulässig sein.
Woraus ergibt sich das?
Eine Gewaltanwendung auf der
Grundlage von Artikel 51 UN-Charta ist nur zulässig, wenn dies zur Abwehr
eines gegenwärtigen Angriffs erforderlich ist. Artikel 51 UN-Charta
rechtfertigt keine Vergeltungs- oder Bestrafungsaktionen. Auch dies hat
der Internationale Gerichtshof in Den Haag mehrfach
entschieden.
Die Befürworter eines
Nato-Einsatzes werden Ihnen entgegenhalten, dass ein völkerrechtlicher
Vertrag auf veränderte Umstände reagieren können muss. Kann der
Nato-Vertrag von 1949 sozusagen dynamisch ausgelegt und auf terroristische
Angriffe dieses Ausmaßes angewendet werden?
Die Handhabung und auch die
Interpretation des Nato-Vertrags durch die Vertragsstaaten mag sich
ändern. Dies ändert aber nichts daran, dass die Nato-Staaten an die
UN-Charta und das geltende Völkerrecht gebunden bleiben.
Angesichts tausender unschuldiger
Opfer müssen die USA selbstverständlich alles tun, um die Täter zu
bestrafen. Vor allem müssen Wiederholungen verhindert
werden.
Das sollte man auch tun. Die
Strafverfolgungsbehörden der Staaten sollten weltweit eng zusammenarbeiten
und alles daran setzen, die Täter zu ermitteln und sie den für die
Verurteilung allein zuständigen Gerichten zu überantworten. Selbstjustiz,
auch staatliche Selbstjustiz, darf in Rechtsstaaten und durch
Rechtsstaaten nicht stattfinden.
Welche wirksamen Möglichkeiten
sehen Sie denn, um den Terrorismus wirksam zu bekämpfen und solche
Attacken zu verhindern?
Verblendete Terroristen kann man
schwerlich durch Gegenterror abschrecken. Ihnen gilt der Verlust des
eigenen Lebens offenbar wenig. Vielmehr müssen die Ursachen des
Terrorismus bekämpft werden. Man muss erkennen, dass insbesondere im Nahen
Osten praktisch jeden Tag Menschen zu Terroristen sozialisiert werden.
Dazu trägt auch die Art des israelischen Umgangs mit den Palästinensern
bei. Friedenspolitik in diesen Konfliktzonen ist der wichtigste Beitrag
dazu, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Die Rekrutierungsbasis
für immer neue Terroristen muss minimiert werden. Schließlich sollte
international jegliche Zusammenarbeit mit terroristischen Gruppierungen,
sei es mit islamistischen Gruppen, sei es mit der UCK in Kosovo oder
Mazedonien, strikt geächtet werden. Hier herrscht ein großer
Nachholbedarf.
Der deutsche Außenminister Joschka
Fischer kommt aus einer Partei der Friedensbewegung. Hätte er Ihrer
Ansicht nach gegen den Bündnisfall stimmen müssen?
Als deutscher Außenminister ist er an
die Vorgaben der Verfassung und des geltenden Völkerrechts strikt
gebunden. Da die Voraussetzungen für den Bündnisfall nach Artikel 5
Nato-Vertrag und nach Artikel 51 UN-Charta nicht vorliegen, muss sich dies
auch in seinem Abstimmungsverhalten im Nato-Rat niederschlagen.
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